Ruin des Bildungssystem
„Samiel,hilf!“
( Carl Maria von Weber, Der Freischütz )
Antje Müller – Wendehals war im August 2009 in den 12. Jahrgang einer Gesamtschule gekommen und steuerte zielstrebig auf das Abitur zu. Nach dem ersten Schock durch die katastrophalen Ergebnisse der Pisa Studie in den Jahren 2001/2002 war es zu einem Umdenken in der Bildungspolitik gekommen. In den SPD – geführten Ländern waren flächendeckend Gesamtschulen eingeführt worden, weil man sich davon die Heilung aller Probleme versprach. Das konnte man freilich nur denjenigen vormachen, die auf einer Gesamtschule gewesen waren.
Zudem wurden ständig neue Organisationsformen im Schulleben eingeführt, bei denen keiner mehr wusste, was diese eigentlich wollten. Neben die verlässliche Grundschule, die volle Halbtagsschule und die kooperative Gesamtschule traten das kooperative Gymnasium mit Turbozweig, die unzuverlässige Förderstufe mit Ganztagsbetreuung, die ganze Realschule und die ganz kaputte Hauptschule mit Hausaufgabenbetreuung. Die auf diese Weise eingetretene Begriffsverwirrung rief bei den Eltern Orientierungslosigkeit hervor, hatte aber auch ungeahnte und gewollte Vorteile. Kein Mensch blickte mehr richtig durch und die schwerwiegenden Mängel des Systems wurden durch den organisatorischen Wirrwarr verschleiert. Die Anzahl der Schüler in den Klassen wurde immer höher, die Lehrer wurden immer älter, die bürokratische Erbsenzählerei erreichte gigantische Formen. Der Verwaltungsapparat des Bildungswesens, der im Wesentlichen dazu diente, Parteifunktionären höher dotierte Posten zur Verfügung zu stellen, wurde weiter aufgebläht. Statt diese frischen Kräfte, die sich jahrelang in der Etappe hatten ausruhen dürfen, der einbrechenden Schulfront zuzuführen, wurde neue funktionslose und teure Bürokratieverwalter geschaffen. Und da diese Leute eine Bestätigung für die Notwendigkeit ihres Tuns brauchten, erschwerten sie mit kleinkarierten Albernheiten den ohnehin leidgeprüften Lehrern vor Ort das Leben.
Die deutsche Rechtschreibung nahm derweil immer mehr den Charakter des Beliebigen an. Aufgrund der verschiedenen Rechtschreibungen in den drei großen Lexiken: Duden, Bertelsmann und Brockhaus konnte die Rechtschreibung in den Schulen nicht mehr benotet werden. Daz hate zua Volge, das die Schprache als verstentikungsmitl ima mea zeavil. Dieser Vorgang wurde begleitet vom Jubel der „fortschrittlichen“ Pädagogik, weil endlich die Sprachbarrieren der sozial Benachteiligten niedergerissen würden und die Chancengleichheit Einzug in die Klassenzimmer hielte. Da es seit langem verdächtig war, wenn man behauptete, ein guter Deutscher zu sein, war es nur folgerichtig, dass man auch die Forderung rückwärtsgewandter Studienräte nach „gutem Deutsch“ für eine ausländerfeindliche Aktion hielt.
Das von der pädagogischen Avantgarde angeprangerte Elend der spätbürgerlichen Pädagogik war beendet. An die Stelle trat das Elend der um ihre Lebenschancen betrogenen jungen Menschen. Die Globalisierung nahm schließlich keine Rücksicht auf die Wunschträume von Schwärmern, die meinten, mit einer Leistungsbewertung gehe die Zerstörung von Kinderseelen einher.
Bis 2013 hatte Deutschland – zumindest was die Zahl der Abiturienten anging – allerdings wieder die Spitze im internationalen Vergleich erklommen. Es machten stolze 81% eines Jahrganges Abitur. Bei den Leistungsanforderungen war es freilich – so der offizielle Sprachgebrauch – zu einer „kreativen Differenzierung des Leistungsniveaus“ gekommen. In Englisch hatte man bestanden, wenn es einem gelang, fünf unregelmäßige Verben aufzusagen. In Deutsch musste man einen Aufsatz schreiben: „Mein schönstes Ferienerlebnis“ und in Mathe war das fehlerlose Zählen bis 100 die Hürde. In den anderen Fächern reichte es, wenn man teilweise am Unterricht teilgenommen hatte und ab und zu an der richtigen Stelle genickt hatte. Ein weiterer Vorteil dieses Systems war, dass man das Lehramtsstudium auf ein Fachsemester und fünf Pädagogiksemester verkürzen konnte. Auch die diskriminierenden Schranken zwischen Grund- und Hauptschullehrern, Realschullehrern und Gymnasiallehrern fielen dadurch weg.
Ein kleiner Nachteil war allerdings, dass man – außer in Deutschland – nur noch in Pjöng – jang mit dem deutschen Reifezeugnis studieren konnte. Auch in Bayern und in Baden- Württemberg wurden die Abiturzeugnisse aus Berlin und Bremen nicht mehr anerkannt.
In den Hauptschulen war der normale Unterricht inzwischen ganz eingestellt worden. Die Behandlung der Schüler hatten Sozialarbeiter und Diplompsychologen übernommen. Projektwochen mit Themen wie: „Ethnisches Stricken“ oder „Wie bastele ich mir ein Kondom“ bestimmten den Schulalltag. Der wesentliche Teil des Vormittags bestand aus Konfliktberatung. Warming- ups, szenische Spiele und der Aufbau von Schülergruppen zu Standbildern schufen eine entspannte und freundliche Atmosphäre. Zwar waren die armen Kids am Ende ihrer Laufbahn komplette Idioten, aber sie waren spontan und ausgeglichen. Sie fanden keine Arbeit, weil sie weder lesen noch schreiben noch rechnen konnten, aber sie reagierten in Konfliktsituationen überaus besonnen.
Mit der schleichenden Vernichtung des Bildungsstandortes Bundesrepublik Deutschland ging logischerweise die Vernichtung des Wohlstandes einher. Jahrelang hatten die Politiker aller Parteien so getan, als sei es ein Naturgesetz, dass die Bundesrepublik zu den reichsten Ländern der Erde zähle. Entsprechend sorglos hatte man seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts sämtliche Stoppschilder überfahren und die Bedingungen des Wohlstandes ruiniert. Als freilich Deutschland im Jahre 2013 auf den Bildungsstand von Anatolien zurückgefallen war, wunderte man sich, dass wir uns allmählich auch mit dem Lebensstandard von Anatolien anzufreunden hatten.
Jörg Hellmann, “Michel schlägt zurück”, Satire, ISBN: 978-3-00-011725-1, S. 120-125
Buch: Michel schlägt zurück (hildesheimer-literaturverlag.de)