Oles Diagnose

Enkel Ole ist fünf und geht noch in den Kindergarten. Langsam wächst er in die wunderliche Welt hinein, die er als Erwachsener dereinst bewältigen soll. Und damit er sich später nicht über alles Mögliche wundern muss, wird er frühzeitig in allen Bereichen aufgeklärt. Seine Mutter, ihres Zeichens Ärztin, hat dabei den Part übernommen, die biologischen Geheimnisse der menschlichen Natur zu enträtseln – unter anderem, was aus dem Essen in unserem Körper wird. Und so hat denn Ole voller Staunen erfahren, wie das mit seinem heiß geliebten Nutellabrot so weitergeht: dass es erst durch die Speiseröhre wandert, dann in den Magen kommt und schließlich im Darm landet. Bei der Gelegenheit werden ihm auch gleich die möglichen Ursachen von Magenschmerzen erklärt. Und die Entstehung von Pupsen, was bei ihm verständlicherweise auf besonderes Interesse stößt.
Diese neuen Einsichten haben bei ihm einen Prozess der Selbstbeobachtung in Gang gesetzt, der inzwischen sogar übergegangen ist in diagnostische Beurteilungen seines Gesundheitszustandes. Vor kurzem überrascht er seine verblüffte Mutter mit der Feststellung, er kriege demnächst Darmkrebs. Nun mögen mir diejenigen verzeihen, die unter dieser tückischen Krankheit leiden, – aber aus dem Munde eines Fünfjährigen entbehrt diese verhängnisvolle Diagnose nicht einer gewissen Komik.
Oles Mutter will natürlich wissen, wie er darauf komme und so entfaltet Ole sein jüngst erworbenes biologisch – medizinisches Wissen. Er habe im Moment ein Kratzen im Hals, verkündet er sorgenvoll. Mit dem Essen werde diese Krankheit dann durch die Speiseröhre weiter in den Magen wandern und schließlich im Darm den Darmkrebs hervorrufen, dessen sei er sich sicher. Diese Beurteilung verkündet er dabei keineswegs mit der Weinerlichkeit eines verdrießlichen Hypochonders, sondern mit der Entschlossenheit eines aufrechten Mannes, dem künftigen Kummer tapfer ins Auge zu sehen.
Seine Mutter, ganz Ärztin, erklärt ihm, er möge den Krankheitsverlauf nicht so dramatisch sehen und er möge die weitere Entwicklung seines Leidens aufmerksam beobachten.
Inzwischen ist aus dem Kratzen im Hals, wie nicht anders zu erwarten, ein ordinärer Schnupfen geworden und der Rotz des Rotzlöffels versiegt sogar langsam schon wieder. Aber für die Familie bleibt die mit Stolz erfüllende Erkenntnis, dass im Sprössling die Talente eines großen Mediziners schlummern, eines Chefarztes gar, mit Privatbetten.

Aus: „Kleine Geschichten über Enkel“
(2.Auflage) ISBN: 978-3-9810380-1-9 , S. 5ff. 

Von Dr. Jörg Hellmann

Ex-Pauker, Ex-Fußballer, Ex-Tennisspieler, Golfspieler. Studierender des täglichen Lebens und der sich darin abstrampelnden Menschen. Darüber schreibe ich.